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Motion: Überparteiliche Motion Flüchtlingslager Moria: Nidau muss handeln!

24.09.2020

Vorstossart:

Motion
Vorstoss-Nr.: M 198
Richtlinienmotion: Ja
Behandlung im Stadtrat: 25.03.2025
Eingereicht am: 22.09.2020
Eingereicht von: Kallen Nils (SP), Rubin Michael (Grüne)
Mitunterzeichnende:

--

Beschluss Gemeinderat: 09.02.2021
Aktenzeichen: nid 0.1.6.2 / 4.7
Ressort: Präsidiales
Antrag Gemeinderat: Ablehnung

Antrag

Die Gemeinde Nidau soll sich beim Bund dafür einsetzen, dass Gemeinden, die sich dazu bereit erklären, Flüchtlinge, aufnehmen können.

Zudem soll sie sich gegenüber dem Bund bereit erklären, Flüchtlinge aufzunehmen.

 

Begründung

Seit der Zerstörung des Flüchtlingslagers Moria auf der Insel Lesbos haben 13'000 Menschen jegliche Lebensgrundlage verloren. Die aktuelle COVID-19 Pandemie verschärft die Situation zusätzlich.

Die Situation ist nicht nur für die Geflüchteten, sondern auch für die Bewohner der Insel Lesbos untragbar. Der Bundesrat soll den Gemeinden ermöglichen, nach ihrer Möglichkeit direkt betroffene Menschen aufzunehmen. Zum jetzigen Zeitpunkt geht es nicht darum, Verantwortlichkeiten zu klären, sondern schlicht um die Rettung von Menschenleben.

Die Schweiz darf auf eine lange humanitäre Tradition zurückblicken, sei es die Aufnahme von französischen Soldaten im Jahr 1871, die Aufnahme kriegsversehrter Kinder während und nach dem zweiten Weltkrieg oder die Aufnahme von ungarischen Flüchtlingen in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, um nur einige Beispiele zu nennen.

Heute stehen wir vor der Entscheidung, ob wir stolz unsere humanitären Traditionen weiterführen wollen oder ob wir nachfolgenden Generationen erneut erklären müssen, dass unsere Werte nur dann Anwendung finden, wenn es uns passt.

 

Antwort des Gemeinderates

1. Formelles

Die Zusammenarbeit mit den Exekutiven anderer Gemeinden, des Kantons und des Bundes ist eine Aufgabe des Gemeinderats. Bei der vorliegenden Motion handelt es sich deshalb um eine Motion im abschliessenden Zuständigkeitsbereich des Gemeinderats (Richtlinienmotion). Der Gemeinderat hat bei Richtlinienmotionen einen relativ grossen Spielraum hinsichtlich des Grades der Zielerreichung, der einzusetzenden Mittel und der weiteren Modalitäten bei der Erfüllung des Auftrages. Die Entscheidverantwortung bleibt beim Gemeinderat.

 

2. Inhaltliche Beantwortung

a)    Gesamteuropäische Herausforderung und humanitäre Hilfe des Bundes

Die Bedingungen auf den griechischen Inseln sind seit Jahren menschenunwürdig. In den letzten Monaten haben sie sich wegen der Pandemie und den Ausgangssperren dramatisch verschärft. Auch das neue Lager, das in Lesbos nach dem Brand errichtet wurde, bietet gemäss Migrationsexperten nicht ansatzweise menschenwürdige Bedingungen.1

Als Reaktion auf das Feuer auf der Insel Lesbos in der Nacht vom 8. September 2020 hat die Schweiz umgehend Soforthilfe geleistet. Während mehrerer Wochen konzentrierte die humanitäre Hilfe des Bundes ihre Hilfeleistungen auf die Unterbringung, die Versorgung, die Gesundheit und den Schutz der betroffenen über 12'000 Asylsuchenden. Die Schweiz brachte Hilfsmaterial nach Griechenland und es waren Spezialisten des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe in Lesbos im Einsatz. Bis zu einer Million Franken wurde für die humanitäre Hilfe bereitgestellt, damit auf die dringendsten Bedürfnisse reagiert werden kann.

Die Schweiz unterstützt Griechenland aber auch bilateral seit mehreren Jahren. So wurden insbesondere die Stärkung der Asyl- und Aufnahmestrukturen sowie die Verbesserung der Migrationssteuerung vor Ort gefördert. Die Schweiz hat seit 2015 Projekte im Umfang von ca. 8.5 Millionen Franken unterstützt.2

Die Situation in Südosteuropa ist aber eine gesamteuropäische Herausforderung. Trotz Milliardenhilfen der EU ist es bisher nicht gelungen, eine tragbare Situation für die Asylsuchenden zu schaffen. Damit den rechtlichen Standards, der Genfer Flüchtlingskonvention und den Menschenrechten entsprochen werden kann, sind gemäss Migrationsexperten eine institutionelle Lösung mit Hilfe vor Ort, der Übernahme von Flüchtlingen durch Drittstaaten in einem geordneten Verfahren sowie gut organisierte, schnelle und glaubwürdige Asylverfahren erforderlich.3

 

b)    Aufnahme von Flüchtlingen aus Europa in die Schweiz

Die ausserordentliche Aufnahme von Asylsuchenden und Flüchtlingen aus Europa in die Schweiz kommt grundsätzlich in zwei Situationen in Betracht. Einerseits im Rahmen eines europäisch koordinierten Programms zur Entlastung eines besonders belasteten Dublin-Staats. D.h. konkret, wenn die EU ein Aufnahmeprogramm für Flüchtlinge aus Lesbos beschliessen und die Schweiz um eine Beteiligung anfragen würde.

Andererseits kann der Bundesrat im Rahmen von sogenannten Resettlement Programmen Flüchtlinge direkt aus Kriegs- oder Krisengebieten aufnehmen. Zu diesen zählt der Bund die Insel Lesbos und Griechenland als EU Staat allerdings nicht. Zudem besagt das Dublin-Abkommen, dass Flüchtlinge in ihrem Ankunftsland das Asylverfahren durchlaufen müssen.

Eine Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland sowie eine Reform des Dublin-Abkommens hat die Staatspolitische Kommission des Nationalrats bereits im April 2020 mit einer politisch breit abgestützten Motion gefordert. Die Motion wurde vom Bundesrat zur Annahme empfohlen und von beiden eidgenössischen Räten angenommen, womit ein konkreter Handlungsauftrag besteht.4

Besonders prekär war die Situation nach dem Brand für mehr als 400 unbegleitete Minderjährige. Die Schweiz hat sich den 15 EU-Staaten angeschlossen und unbegleitete Minderjährige aufgenommen. Zudem führt der Bund die zu Beginn 2020 lancierte Aufnahme von unbegleiteten Minderjährigen mit einem familiären Bezug zur Schweiz weiter. Bislang hat die Schweiz 53 Kinder und Jugendliche in diesem Rahmen aufgenommen. Diese Aufnahmen setzt der Bund ohne quantitative Obergrenze fort.5

 

c)    Kritik am Vorgehen des Bundes und Engagement der Städte

Im Frühling 2020 wurde die zivilgesellschaftliche Petition «Evakuieren Jetzt!» lanciert. Diese wurde im Juni 2020 mit über 50‘000 Unterschriften und über 130 unterstützenden Organisationen dem Bundesrat übergeben. Die Petition ruft den Bundesrat und das Parlament dazu auf, möglichst viele Geflüchtete aus der Ägäis in die Schweiz zu holen.6 Auch die acht grössten Schweizer Städte (Zürich, Genf, Basel, Lausanne, Bern, Winterthur, Luzern, St. Gallen) haben sich der Petition angeschlossen und sich bereit erklärt, über die bestehenden Verpflichtungen hinaus zusätzliche Geflüchtete aufzunehmen.

Nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria machten zahlreiche Schweizer Städte ihre Bereitschaft zusätzlich publik, umgehend Flüchtlinge aufzunehmen.7 Auch wurden in weiteren Städten entsprechende parlamentarische Vorstösse eingereicht.8 Kritisiert wird, dass das Engagement der Schweiz zu wenig weit gehe und dass die Direktaufnahme durch Städte, die sich dazu bereit erklären, ermöglicht werden soll. Der Bund hält allerdings mit Verweis auf das Asylgesetz fest, dass die Aufnahme via Asylverfahren über den Bund erfolgt und Städte nicht direkt Geflüchtete aus Lesbos aufnehmen können.9 Eine direkte Aufnahme von Migrantinnen und Migranten durch die Städte ist somit aufgrund der rechtlichen Kompetenzteilung zwischen Bund und Kantonen im Ausländer- und Flüchtlingswesen ausgeschlossen. Deshalb konnten auch die Städte, die sich dazu öffentlich bereit erklärten, bisher keine zusätzlichen Flüchtlinge direkt aufnehmen. Allerdings haben interessierte Städte und Gemeinden die Möglichkeit, mit ihrem Kanton eine zusätzliche Aufnahme innerhalb des kantonalen Verteilschlüssels zu vereinbaren.

 

d)    Bisherige Vorstösse zur Thematik

Bereits in seiner Antwort auf die am 22. März 2019 im Stadtrat behandelte Richtlinienmotion «Aufnahme von Bootsflüchtlingen», welche vom Stadtrat abgelehnt wurde, legt der Gemeinderat in seiner Antwort dar, dass die Kompetenzen für die Aussenpolitik und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten vollumfänglich beim Bund sowie die Kompetenzen für die Asyl- und Flüchtlingspolitik bei Bund und Kantonen liegen.

Weiter verweist der Gemeinderat in seiner Antwort auf die vom Kanton in Auftrag gegebene Ecoplan-Studie, die besagt, dass sich der Anteil an Flüchtlingen ganz direkt auf die Sozialhilfequote einer Region auswirkt. Eine schwache wirtschaftliche Entwicklung der Region und die Zweisprachigkeit erschwerten die wirtschaftliche Integration dieser Personen.

Weiter führte der Gemeinderat in seiner Antwort auf die Richtlinienmotion «Quotenlösung Asylwesen» - welche im Juni 2020 im Stadtrat beraten und ebenfalls abgelehnt wurde - aus,

dass in den ersten 5-7 Jahren der Bund und der Kanton zuständig für die existentielle Sicherung der Personen im Asylbereich sind. Nach 5-7 Jahren wechselt die Zuständigkeit für die existentielle Sicherung von Kanton zu den Gemeinden. D.h. die Aufnahme von Flüchtlingen erfolgt über den Bund, der die entsprechenden Kontingente den Kantonen zuteilt. Der Kanton Bern übergibt dann die Asylsuchenden an den in der Region zuständigen Partner, der die sprachliche, soziale und berufliche Integration der Asylsuchenden anstrebt (z.B. Case Management Integration, Arbeitsvermittlung und Coaching, Unterbringung und Beschäftigung). In den Regionen Bern Mittelland, Seeland und Berner Jura wird diese Aufgabe vom Schweizerischen Roten Kreuz Kanton Bern wahrgenommen. Erst, wenn die Integration nicht erfolgreich verläuft, werden Asylsuchende und vorläufig Aufgenommene nach fünf oder sieben Jahren an den Sozialdienst der Gemeinden übertragen. Zu diesem Zeitpunkt sind immer noch über 80% der Personen auf Sozialhilfeunterstützung angewiesen. Weiter führte der Gemeinderat in seiner Antwort aus, dass die kantonale Direktion Gesundheit Soziales Integration für die Stadt Nidau einen überproportional hohen Anteil an solchen Übertragungen in den nächsten Jahren prognostiziert, zumal der Anteil an Personen aus dem Asylbereich in Biel und Nidau ohnehin über dem kantonalen Durchschnitt liegt.

 

e)    Fazit

Der Gemeinderat hat grosses Verständnis für das Anliegen der Motionäre und teilt deren Besorgnis. Der Gemeinderat steht zur humanitären Tradition der Schweiz und begrüsst das zivilgesellschaftliche Engagement als Aufruf in der humanitären Tradition der Schweiz zu handeln. Gleichzeitig respektiert der Gemeinderat die geltende Zuständigkeitsordnung und unterstützt die Politik des Bundes, insbesondere da mit der erwähnten angenommenen Motion der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats ein konkreter Handlungsauftrag der zuständigen Ebene besteht. Der Gemeinderat erachtet es weiter als sinnvoll, dass die Aufnahme von Flüchtlingen über ein ordentliches Verfahren via Bund und anschliessend die Betreuungsarbeit durch die dafür spezialisierten regionalen Partner erfolgt, weil das erforderliche Fachwissen und die Strukturen auf kommunaler Ebene schlicht fehlen. Mit dem Kanton Bern eine zusätzliche Aufnahme innerhalb des kantonalen Verteilschlüssels auszuhandeln, erachtet der Gemeinderat für die in Bezug auf die Bevölkerungsstruktur und Sozialhilfequote bereits überdurchschnittlich belastete Stadt Nidau nicht als opportun, zumal die aufgeführten Städte durchschnittlich eine ca. halb so hohe Sozialhilfequote wie Nidau aufweisen. Bereits heute leistet die Stadt Nidau in den Schulen, den familienergänzenden Betreuungsstrukturen, der Jugendarbeit, der Integrationsarbeit, den Sozialen Diensten etc. einen grossen Effort zur gesellschaftlichen Integration. Aus diesen Gründen beantragt der Gemeinderat die Ablehnung der Motion. Abschliessend möchte der Gemeinderat darauf aufmerksam machen, dass es interessierten Privatpersonen offen steht, einen zusätzlichen Beitrag zu leisten z.B. im Rahmen eines Gastfamilienprojekts oder als Freiwillige/r beim Schweizerischen Roten Kreuz.10

 

Stadtratsbeschluss 

Annahme als Richtlinienmotion mit 16 Ja / 14 Nein
 


1 Gerald Knaus in «Der Bund» vom 10. Oktober 2020.

2 Antwort des Bundesrats vom 18. November 2020 auf die Motion 20.4064 «Keine Aufnahme von Asylsuchenden aus abgebrannten Lagern».

3 Gerald Knaus in «Der Bund» vom 10. Oktober 2020.

4 Motion 20.3143 «Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland sowie Reform des Dublin-Abkommens».

5 Antwort des Bundesrats vom 18. November 2020 auf die Motion 20.4064 «Keine Aufnahme von Asylsuchenden aus abgebrannten Lagern».

7 Z.B. Medienmitteilung der Stadt Bern vom 9. September 2020 «Stadt Bern will Flüchtlinge aus Moria aufnehmen» oder Medienmitteilung der Stadt Zürich vom 10. September 2020 «Stadt Zürich fordert umgehend eine nationale Konferenz zur Direktaufnahme Geflüchteter».

8 Z.B. Stadt Solothurn, Dringliche Motion vom 14. September 2020 «Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Camp Moria» oder Stadt Thun, Postulat betreffend solidarische Städte in der Asylpolitik vom 11. Juni 2020.

9 Asylgesetz vom 26. Juni 1998; SR 142.31 und Interview mit Bundesrätin Karin Keller Sutter «Die Aufnahme von Personen erfolgt über den Bund» in SRF vom 10. September 2020.

Vorstoss im Original

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Typ Titel Bearbeitet
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